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Eine Tattoo-Geschichte, die unter die Haut geht.
Er war vielleicht 70 Jahre alt, und seit einer halben Stunde saß er mir in dem Cafe gegenüber.
Indem die Zeit irgendwann 1960 stehen geblieben zu sein schien. Er passte hier hinein, war wie das alte Mobiliar, wie die mit Vinylplatten bestückte Musikbox und die mütterlich freundliche
Bedienung ein Relikt vergangener Tage.
Ich hatte auf einer Geschäftsreise hier halt gemacht um einen Kaffee zu trinken, und war auf ihn aufmerksam geworden, weil sein linker Arm von der Schulter bis auf den Unterarm hinab tätowiert
war. Schon aus beruflichen Gründen sah ich mir die Sache also genauer an.
Das Tattoo sah aus, als ob es wie sein Baumfällerhemd ein paar Mal zu oft gewaschen worden war. Ich konnte die Bilder nur erahnen. Die Farben waren verblasst, die Ränder der Bilder wohl nie
gestochen scharf gewesen. Aber irgendwie faszinierte mich dieses Werk und ich ging zu ihm rüber – sprach ihn auf sein Tattoo an. Sein Gesicht veränderte sich und seine Augen blitzten mich vergnügt an, als ich ihn fragte, ob er
mir die Geschichte seiner Tätowierung erzählen würde. Er sah seinen eigenen Arm an und
lächelte „Hier, diese süsse Tänzerin mit den heissen Hüften, die habe ich mir stechen lassen, als ich mal wirklich was mit einer Tänzerin hatte.“ Dabei deutete er mit den Fingerspitzen auf die völlig verwaschene Farbansammlung, die ich nun, als er darauf zeigte, ebenfalls als die Gestalt einer spärlich bekleideten Pinup-Lady mit rotem Lockenkopf erkennen konnte. Das Gesicht war kaum noch zu erkennen. Gott allein wusste, was für Farbe für dieses Tattoo verwendet worden war.
„Das hat damals der Heinz gemacht, mit Drahtstücken von dem Maschenzaun, hinter der Kaserne. Wenn sie uns erwischt hätten, wären wir beide im Bau gelandet.“ Er lachte tief und laut auf. „Himmel,
war das eine scharfe Braut! Hat scheisse weh getan, das stechen zu lassen. Aber das war es wert! Guck doch nur, was für leuchtende Augen sie hat, die Lilly. Keine Ahnung wie sie richtig hiess, für uns war sie die Lilly!“
Ich konnte auch jetzt, da ich wusste wo das Gesicht von Lilly war, keine konkreten Augen mehr ausmachen – aber er sah sie offensichtlich noch.
„Und hier....“ er tippte auf den grossen, roten Fleck über Lilly „das war für die Kellnerin von der Eisdiele. Wollte sie überraschen mit 2 Rosen. Die eine hab ich ihr mitgebracht und die andere
hatte ich mir für sie stechen lassen. Hat auch der Heinz gemacht. Aber da waren wir schon wieder zu Hause.“ Eine Rose war das also...jetzt wo er es sagte, konnte ich auch dies schemenhaft erkennen.
„Und das da drunter?“ fragte ich und zeigte auf das helle Dreieck unter der Rose.
„Junge, guck doch hin – die Rose ist in der Eistüte – das war doch der Witz – den Namen von dem Lokal, hätte ich längst vergessen. Wenn er hier nicht draufstünde...“ Ganz gleich wie angestrengt
ich suchte, einen Namen auf der Eistüte konnte ich nicht finden. Aber während ich begriff, dass dort längst kein Name mehr zu lesen war, stieg in meinem Bauch eine warme, beinahe ehrfürchtige Welle hoch. Ich hatte tausende von
Tattoo´s gesehen und „beurteilt“. Hatte darüber gefachsimpelt ob sie gut oder schlecht waren. Nach meinen üblichen Maßstäben war dies hier ein grottenschlechtes Tattoo. Primitiv und unfachmännisch gestochen mit einem Stück
Zaundraht. Im Laufe von Jahrzehnten, durch die schlechten Materialien, verlaufen - regelrecht vergilbt und vergammelt. Aber ich sah dem Mann an, der mit breitem Lächeln seinen Arm betrachtete und ganz offensichtlich noch jeden
Farbpunkt dort sah, wo er am ersten Tag gewesen war. Das Lachen von Lilly und ihre schönen Augen, die frische Rose, die in einer Eiswaffel lag, und der Name des Eiscafe´s darauf – es war völlig egal, was aus den Bildern
geworden war. Er trug sie solange mit sich herum, dass sie in mehr als einer Art, ein Teil von ihm geworden waren. Sie hatten die Geschichten seines Lebens in seiner Erinnerung auf ewig festgehalten. Und für ihn waren die
Konturen der Bilder noch genauso glasklar, wie am ersten Tag. Ich habe dort am Ende der Welt, in dem abgelegenen, altertümlichen Café zum ersten Mal „wirklich“ begriffen, dass ein Tattoo in der Tat mehr sein kann als ein mehr
oder weniger kunstvolles Bild auf der Haut.
Ich bedankte mich bei dem Mann für die Erklärungen, wünschte ihm einen schönen Tag, und stand auf um zu gehen.
Und für einen Moment hätte ich schwören können, dass die scharfe Lilly mir zugeblinzelt hat...
Quelle: Tattoo-Spirit, Dez/Jan 05
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